Transformation der Erinnerungskulturen

Transformation der Erinnerungskulturen

Organisatoren
Forschungsinstitut Arbeit Bildung Partizipation, Recklinghausen; Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin
Ort
Recklinghausen
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.02.2005 - 24.02.2005
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Von
Christoph Thonfeld, Institut für Geschichte und Biographie, Lüdenscheid

Die Erinnerungskultur hat es geschafft, sich als positives Etikett in einem Feld zu etablieren, das lange Zeit von Begriffen wie Vergangenheits- oder Geschichtspolitik, denen der Makel taktischer Interessenvertretung anhaftet, und Vergangenheitsaufarbeitung bzw. -bewältigung, die wiederum zu sehr nach freudloser Mühsal klingen, konturiert wurde. Darin bildet sich eine Entwicklung ab, in der das politisch, gesellschaftlich und wissenschaftlich grundierte Kräftefeld der Beschäftigung mit der Vergangenheit, in dem Eindeutigkeiten geschaffen werden sollten, zunehmend von ästhetisierenden und pluralisierenden Deutungsansätzen überlagert wird, die ein ergebnisoffenes Kräftespiel von Symbolkonkurrenzen beschreiben. In den Blick geraten dabei verstärkt Kontinuitäten und Brüche narrativer Strukturen und diskursiver Formationen, was grundsätzlich von der Veränderung des Blicks auf die Vergangenheit im Zusammenhang mit dem Aussterben der Zeitzeugengeneration inspiriert scheint. Die vom Forschungsinstitut Arbeit Bildung Partizipation aus Recklinghausen und der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur veranstaltete, international besetzte Tagung brachte in erster Linie Historikerinnen und Historiker zusammen, um eine Zwischenbilanz der Entwicklung der Erinnerungskulturen vor allem in Osteuropa zu ziehen, deren Befunde durch Seitenblicke auf Deutschland, Frankreich und Italien kontrastiert und vergleichbar gemacht werden sollten.

In seinem einleitenden Vortrag formulierte Bernd Faulenbach (Bochum/Recklinghausen) das Verhältnis von Demokratisierung und historischer Aufarbeitung als wesentliches Erkenntnisinteresse. In den Wandlungsprozessen öffentlichen Gedenkens in Mittelosteuropa seit 1989 konstatierte er allgemein eine (Re)Konstruktion nationaler Identitäten, die mit entsprechenden nationenspezifischen Differenzierungsprozessen korrespondiert. Ausgehend von seiner These, dass Elitenkontinuität den Erinnerungswandel erschwert, stellte er drei „Idealtypen“ möglicher Verläufe dieses Wandels heraus: 1) ein völliger Austausch der Gedenkkultur, 2) eine Aufrechterhaltung tradierter Erinnerungsformen und 3) eine konfligierende bzw. – positiv gewendet – pluralisierte Form des Gedenkens. Dabei ließe sich laut Faulenbach eine koextensive Zunahme von nationalen Friktionen wie europäisierenden Potentialen feststellen. Dan Diner hat den Holocaust programmatisch zum Gründungsereignis eines europäischen Gedenkens erhoben. Dieser normative Vorstoß nimmt jedoch ganz unterschiedliche Positionen in den verschiedenen, national geprägten Narrativen ein.

Für Mittelosteuropa steht die Prägekraft der kommunistischen Herrschaft außer Zweifel; sie war nachhaltig, aber gleichzeitig heterogen. Um dies ausdifferenzieren zu können, versuchte sich Stefan Troebst (Leipzig) am Entwurf von vier Kategorien von Gedenkkulturen. Dies sind
1. solche, die auf einem Grundkonsens der Ablehnung kommunistischen Gedenkens fußen (als Beispiele nannte er die baltischen Staaten, Kroatien und die Slowakei)
2. solche, in denen eine äußerst kontroverse Vergangenheitsaufarbeitung stattfindet (Beispiele: Ungarn, Tschechien, Polen, Ukraine)
3. solche, in denen vor allem Ambivalenz und Apathie gegenüber der kommunistischen Vergangenheit herrscht (Beispiele: Bulgarien, Rumänien, Serbien-Montenegro, Mazedonien, Albanien).
4. solche, die sich durch eine relativ hohe Eliten- und damit auch Gedenkkontinuität auszuzeichnen (Beispiele: Russland, Belarus, Moldawien)

Troebst erscheint bei der Analyse von Gedenkkulturen eine zeitweise Verdrängung auch der Bedeutung wichtiger Zäsuren sowie eine gewisse Zeitverzögerung in der Auseinandersetzung mit Aspekten der Vergangenheit als europäischer Normalfall.

In der ersten Diskussion wurde der Kategorisierungsansatz zwar problematisiert, er lieferte aber immer wieder Gesprächsanlässe. Hier tauchten einige Leitgedanken auf, die während der ganzen Tagung und darüber hinaus eine wichtige Rolle spielten bzw. spielen. Die Ausrichtung der Forschung sollte die kulturalistischen Dimensionen des Erinnerns stärker berücksichtigen und die bedeutsame Präsenz individueller Erinnerungen und privaten Tradierens angemessen einbeziehen. Gleichzeitig werden in den Erinnerungsdebatten häufig unzutreffend vereindeutigende Begrifflichkeiten verwendet. Schließlich lässt sich quer durch die Gedenkkulturen eine generelle Tabuisierung von Täterpositionen beobachten.

Polen: Erinnerung zwischen Opferperspektive und Europakritik

In seinem Vortrag hob Hans-Jürgen Bömelburg (Lüneburg) hervor, dass der Zweite Weltkrieg und die deutsche Besatzung nach wie vor die Angelpunkte der polnischen Erinnerungskultur sind. Lokale Widerstandsgeschichten wurden in der Nachkriegszeit zu einem allgemeinen Narrativ homogenisiert, während Erinnerungen an Kollaboration und antisowjetische Positionen gezielt ausgeblendet wurden. Mit der beginnenden Systemtransformation der 1980er Jahre wurde auch ein differenzierteres Deutschlandbild wieder kommunizierbar. Das schrittweise Thematisieren polnischer Kollaboration unter der Besatzung und der Rolle des polnischen Antisemitismus relativiert inzwischen ansatzweise das umfassende polnische Opferselbstverständnis.

Opfererfahrung und Kritik am Stalinismus waren jahrzehntelang tabuisiert, so der Ausgangspunkt des Vortrags von Krzysztof Ruchniewicz (Wroclaw). Die Bevölkerung lehnte die „Westverschiebung“ Polens überwiegend ab. Die ehemaligen Ostgebiete unterlagen einer zunehmenden Sakralisierung und Mythologisierung; deren vertriebene Bewohner sahen sich Revanchismus-Vorwürfen ausgesetzt, wenn sie sich mit dem Verlust der Heimat nicht abfanden. Im Zuge von Glasnost und Perestroika begann eine vorsichtige Aufdeckung „weißer Flecken“ der polnischen Geschichte, bevor nach 1989 eine rege Erforschung des kommunistischen Polens einsetzte. Daraus resultierten einerseits Formen des ostpolnischen Opfergedenkens, dessen Mythen allerdings andererseits auch relativiert wurden. Die beginnende Re-Polonisierung des Gedenkens artikulierte sich zunächst besonders im Abbau bzw. der Entwertung alter Gedenkstätten. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Stalinismus blieb allerdings größtenteils begrenzt auf Einzelfallaufarbeitungen, sicher auch deswegen, weil eine saubere Trennung von Gesellschaft und Staat sich als unmöglich erwiesen habe. In der anschließenden Diskussion wurde einhellig die Wichtigkeit der katholischen Kirche für die Wahrung vorkommunistischer Gedenktraditionen konstatiert, die allerdings nach 1989 an Bedeutung verloren hat. Und auch die stete Präsenz des polnischen Exils für das nationale Gedenken wurde festgestellt. Der EU-Beitritt wird in Polen mit der Hoffnung verknüpft, die Relevanz der polnischen Geschichte für Europa zu verdeutlichen. Gleichzeitig ist die Geschichte des vormaligen Ostpolen im Verhältnis zu den östlichen Nachbarn Belarus und Ukraine nicht unumstritten.

Bezeichnend für die polnische Debatte ist das Bemühen, so Claudia Kraft (Bochum) in ihrem abschließenden Vortrag, gegenüber Diners Postulat einer am Holocaust orientierten europäisierten Gedenkkultur Distanz zu wahren. Dies gilt besonders für entsprechende Initiativen, die aus Deutschland kommen. Demgegenüber wird auf einer zunehmenden Pluralisierung des Gedenkens beharrt. Diese ergibt sich vielfach aus der konflikthaften Konkurrenz verschiedener Gedenkkulturen, die auf Diktaturerfahrungen gründen.

Tschechien: Auf der Suche nach neuen Gewissheiten

Für die Erinnerung an die 1930/40er Jahre in Tschechien konstatierte Jirí Pešek (Prag) ein generelles Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der staatlichen Geschichtspolitik. Gleichzeitig waren aber auch oppositionelle Quellen nur gering verbreitet. Vordringlich war und ist die Suche nach basaler Sicherheit in der Forschung, verbunden mit einem hohen Bedürfnis nach Faktizität. Insofern ist die Erinnerungskultur vielfach noch vom Bemühen geprägt, jahrzehntelang vorherrschende Stereotypen aufzubrechen, als dass bereits auf neue Gewissheiten zurückgegriffen werden könnte. Herausragend ist in diesem Zusammenhang die Beurteilung des sog. „Münchener Abkommens“, für das zwischen der – vor allem britischen – Einschätzung eines „missglückten Lösungsversuches“ und dem tschechischen Verdikt des „Verrats“ noch keine konsensfähige Formel gefunden worden ist. Generell wird die Notwendigkeit komparatistischer Forschungen als Orientierungsrahmen betont, während die Holocaustforschung – im Gegensatz zu der in westlichen Ländern mittlerweile zentralen Stellung – noch eine untergeordnete Bedeutung hat.

Die Beneš-Dekrete können laut Miroslav Kunštát (Prag) in gewisser Weise als Chiffre der deutsch-tschechischen Beziehungen gelesen werden, da sich die entstehende Erinnerungskultur zur Zwangsumsiedlung der Sudetendeutschen entlang der Linie zwischen Befürwortern und Gegnern der Beneš-Politik abzeichnet. Die Behauptung sudetendeutscher Kollektivschuld als Legitimation der Vertreibung auf der einen Seite wird mit dem Argument einer möglichen Begünstigung der kommunistischen Machtübernahme durch die Vertreibung auf der anderen Seite kontrastiert. Allgemein akzeptiert bleibt dabei, dass die Geschehnisse im Rahmen der zeitgenössischen politischen Trends kontextualisiert werden müssen und die historische Kausalität zwischen Besatzung und Vertreibung gewahrt bleibt. Die weiterhin vorherrschende politische Aufladung der Kontroverse behindert allerdings eine kritische Aufarbeitung, zumal die öffentliche Debatte neuere Forschungen nur zögerlich zur Kenntnis nimmt.

Die Erinnerung an die kommunistische Vergangenheit wird nach Einschätzung der beiden Referenten besonders von aktiven Stalinismusopfer-Verbänden getragen. Nach der Trennung des tschechischen und des slowakischen Landesteils hat sich zwar in Tschechien eher die gesamtstaatliche Symbolik erhalten. Gleichzeitig erreichte die Verlegung bzw. das „Vergessen“ sowjetischer Denkmäler jedoch solche Ausmaße, dass eine vertragliche Verpflichtung zu deren Pflege getroffen werden musste. Wesentlich größere Aufmerksamkeit erfährt die Um- bzw. Rückwidmung von Denkmälern der nationaltschechischen Tradition. In diesem Zusammenhang werden religiöse Gedenkelemente wiederbelebt und nationale Traditionen rehabilitiert. Ein Problem des Gedenkens sei jedoch, dass es kaum widerspruchsfreie „Heldenfiguren“ gibt, die zur Identifikation einladen. Der vorherrschende kritische Impuls der frühen 1990er Jahre in der Aufarbeitung der Geschichte sei, so die bilanzierende Einschätzung, seit den späten 90ern in das Bemühen um eine Identitätsrekonstruktion überführt worden.

Ungarn: Erinnerungen im Konflikt miteinander

Eva Kovacs konstatierte zur Eröffnung des Panels für die Erinnerung der Ungarn an die Shoah eine deutliche Spaltung der ungarischen Identität in eine jüdische und eine nicht-jüdische. Das Gedenken lasse sich grob in drei Perioden einteilen. Die erste reichte bis 1948 und war von einer kurzen Phase der öffentlichen Präsenz und „Sagbarkeit“ des Judenmords und einer partiellen Anerkenntnis ungarischer Verantwortung – vor dem Hintergrund eines weiter existierenden Antisemitismus – gekennzeichnet. Daran schloss sich bis 1989 eine Zeit des „formierten Gedenkens“ an, die die ungarische Täterrolle tabuisierte. Seither tritt der Antisemitismus wieder offener hervor, aber es gibt auch ein offizielles Bekenntnis der (Mit-)Schuld des ungarischen Staates an der Judenvernichtung. Generell werden jedoch die Opferaspekte der ungarischen Geschichte betont. Daneben zeichnet sich eine Re-Nationalisierung des Gedenkens ab, durch die u.a. die Horthy-Ära als antikommunistische Verteidigung rehabilitiert werden soll. Die Erinnerungsdebatten, die durch polemische öffentliche Kontroversen noch zugespitzt werden, sind zusätzlich von scharfen Opferkonkurrenzen geprägt.

Krisztian Ungvary lehnte in seinem Vortrag zur Erinnerung an die kommunistische Vergangenheit zunächst eine moralische Unterscheidung zwischen NS- und Stalinismus-Verbrechen ab, konzediert aber die zahlenmäßig gewaltige Differenz der Opfer beider Systeme. Bereits vor 1989 setzten Versuche einer Pluralisierung des Gedenkens ein, wobei die Forderungen der Opferverbände nach Aufarbeitung sich einem mangelnden öffentlichen Interesse gegenüber sahen. Hauptkristallisationspunkt ist gegenwärtig die Wahrnehmung des Aufstands von 1956 als Revolution. Seit Mitte der 1990er Jahre ist laut Ungvary eine zunehmende Verharmlosung der kommunistischen Periode auszumachen.
In der Diskussion wurden anhand der kontroversen Entwicklung der Erinnerungskultur in Ungarn weitere über den Einzelfall hinausweisende Beobachtungen pointiert formuliert. So komme Erinnerungskulturen eine starke gesellschaftliche Harmonisierungs- und Integrationsfunktion zu. Das mache sie so anfällig für zählebige Mythen und widersprüchliche Einzelelemente. Die Frage nach dem normativen Bezugspunkt für den Entwicklungsstand einer Erinnerungskultur führe oft zum Verweis auf die angeblich hohe Ausdifferenziertheit der deutschen Gedenklandschaft, ohne die hier vorliegenden, spezifischen Bedingungen und damit die begrenzte Reichweite der Verallmeinerbarkeit genügend in Rechnung zu stellen. Allgemein wurde die Prozesshaftig- und Korrekturbedürftigkeit von Erinnerungskulturen hervorgehoben, die immer als „in Entwicklung“ begriffen werden müssten. Gerade mit Blick auf die europäische Einigung sei hier eher noch zunehmendes Konfliktpotential zu erwarten.

Russland: Erinnerung zwischen Formierung und Fragmentierung

Isabell de Keghel (Bremen) eröffnete das Panel mit einem Beitrag zum Mythos der Oktoberrevolution. In der Gorbatschow-Ära begann unter der Losung der „Beseitigung weißer Flecken“ eine vorsichtige Korrektur am offiziellen russischen Geschichtsbild, ohne es grundsätzlich in Frage zu stellen. Das führte zu einer Rückbesinnung auf die „guten Werte“ der Oktoberrevolution und zu einer Neudeutung Lenins und Bucharins als verdienstvolle Reformer, wofür allerdings zunächst der Begriff selbst rehabilitiert werden musste. Unter Jelzin leiteten westlich orientierte Eliten dann eine grundsätzliche Kritik an den „revolutionären Errungenschaften“ ein, die politisch und symbolisch vor allem mit Lenin abrechnete und ideologisch den Marxismus-Leninismus grundsätzlich kritisierte. Die Sowjetunion galt nunmehr als „Abweichung vom russischen Weg“. Mit ihrem Ende verlor die Erinnerungsdebatte zwar an Brisanz, aber unter dem Motto „Wiederentdeckung der Wahrheit“ setzte gleichzeitig eine differenziertere Wahrnehmung verschiedener Opfergruppen ein. Die unauflöslichen Verquickungen von Opfer- und Täterkonstellationen machen eindeutige Traditionsbildungen schwer; die Helden der Sowjetunion werden jedenfalls inzwischen in „Skulpturenparks“ historisch entsorgt. In der jüngsten Zeit unter Putin zeigen sich in der Erinnerungskultur wieder verstärkt Homogenisierungstendenzen.

Andreas Langenohl (Gießen) näherte sich der sowjetischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg aus der Perspektive der Entwicklung von Wissensordnungen. Vor allem in der Breshn´ev-Ära wurde das Kriegsgedenken massiv funktionalisiert. Die Jugend sollte zu Scham und Schuld gegenüber der Kriegsgeneration erzogen werden, die unter der Führung der KPdSU das sprichwörtliche „Nackte Überleben“ gesichert hatte. Die Befreiung Europas war demnach hauptsächlich durch sowjetische Aufopferung erreicht worden. Seit den 1980er Jahren ließ die Integrationskraft dieses Gedenkens nach; der Konflikt zwischen Sinn und Sinnlosigkeit des Massensterbens trat in den Vordergrund. Dies führte zur Frage nach Verantwortlichkeiten und einer nachträglichen Dramatisierung des durch den Krieg vorenthaltenen Lebens, die mit der personalisierenden Zuschreibung der Schuld an Stalin und einer Betonung der Opfertragik im Gedenken beantwortet wurde. In der Putin-Ära wird die Debatte um Stalin zusehends entpolitisiert, während die lebensspendende Funktion des Krieges wieder stärker hervorgehoben wird. Die anschließende Diskussion ergab, dass bereits in der Stilisierung des Krieges zum „Großen Vaterländischen“ eine Monopolisierung der Erinnerung liege, die den Sieg als unhintergehbaren Ausgangspunkt sämtlicher Interpretationen festschreibe. Gleichzeitig wird in diesem Gedenken die Rolle von Frauen ausgeblendet, die in großer Zahl und an verschiedenen Stellen in der Roten Armee Dienst taten.

Irina Scherbakova (Moskau) betonte das Auseinanderfallen verschiedener Gedächtnisse in Russland. In ihrem Vortrag zur Erinnerung an den Stalinismus stellte sie fest, dass diese relativ schnell aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwand, gleichzeitig aber neostalinistische Tendenzen politisch wieder relevant wurden. Die Breshnev-Ära präge bis heute das Image der Sowjetunion als bleierne, aber auch beruhigende Wohl- und Stillstandsphase. Für kurze Zeit differenzierte sich das Gedenken in der Endphase der Sowjetunion. Die Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit ist allerdings stark faktographisch und von großen Schwierigkeiten geprägt, wie sich exemplarisch am missglückten Prozess gegen die KPdSU gezeigt hat. Auch die schwierige Verteilung von Täter- und Opferpositionen trage dazu bei. Derzeit zeichne sich ein Trend zur „komparativen Normalisierung“ der sowjetischen Geschichte ab, in dem positives und negatives Erinnern unter Beachtung der „Ungleichzeitigkeit der Uhren“ nationaler Narrative in der Erinnerungskultur integriert würden.

Ausgehend von Scherbakovas Schlussbemerkung wurde in der Diskussion auf die begrenzte Synchronizität privater und offizieller bzw. generationeller Erinnerungsmuster hingewiesen. Das bringe die integrative Wirkung des Ungesagten zur Geltung, wobei Schweigen allerdings immer eine ambivalente Funktion innerhalb einer Erinnerungskultur erfülle. In der Debatte um das Gedenken versucht die Kirche mit mäßigem Erfolg, ebenfalls gehört zu werden, während Gedenkstätten erst im Aufbau befindlich sind bzw. nur peripher wahrgenommen werden. Gleichzeitig werden eine Reihe von Haft- und Internierungsstätten, die von zahlreichen Opfern durchlitten wurden, bis heute ungebrochen weitergenutzt. Immerhin ermöglichten die fließenden Grenzen zwischen Opfern und Tätern auch Versöhnungseffekte.

Frankreich/ Italien: Erinnerung zwischen Widerstand und Kollaboration

Kerstin von Lingen (Tübingen) wies in ihrem Vortrag darauf hin, dass der antifaschistische Gründungsmythos von der Selbstbefreiung Italiens im Sommer 1943 auch im steten abgrenzenden Vergleich mit Deutschland entstand. Ein eigener Antisemitismus und italienische Kriegsverbrechen waren in dieser Gründungslegende strikt marginalisiert. Zudem wurden ihnen die Opfer unter den Partisanen und der Zivilbevölkerung gegenübergestellt. In den 1960er Jahren wurde die Resistenza zur umfassenden Grundlage staatlichen Selbstverständnisses. Dies veränderte sich zwar tendenziell in den politischen Konfrontationen der 1970er Jahre. Allerdings begann dieser Mythos erst seit den 1990er Jahren wirklich aufzubrechen; die Auflösung der PCI könnte quasi als Schlussakt der Gültigkeit dieses Gründungskonsenses angesehen werden. Besonders unter der Regierung Berlusconi artikulieren sich revisionistische Perspektiven auf den italienischen Faschismus, die durch die massive Umgestaltung der Medienlandschaft zusätzlich begünstigt werden. Eine kritische Aufarbeitung bleibt daneben marginal, eine Verknüpfung des Gedenkens an eigene Opfer mit dem an eigene Taten unterbleibt in der Regel. Stattdessen erlangt der „Opfermythos“ nunmehr den Status einer „neuen Zivilreligion“. Am Beispiel Italiens lasse sich auch eindrücklich die Bedeutung beziehungsgeschichtlicher Elemente für die Herausbildung nationaler Erinnerungskulturen nachzeichnen.

Ulrich Pfeil (Paris) lieferte einen Überblick über die französische Erinnerungskultur der letzten Jahrzehnte. Eine kurze, harte Phase politischer Säuberung nach 1945 führte dazu, dass das die problematische Herrschaft des Vichy-Regimes als erledigt angesehen und daher ausgeblendet wurde. Anschließend wurde die Rekonstruktion der republikanischen Identität bedeutsamer, die auch eine Reintegration der wegen Kollaboration Verurteilten beinhaltete. Frankreichs Rolle bei der Befreiung wurde überbetont, die Resistance als dominierende Kollektiverinnerung etabliert. Sie entwickelte sich zum Gründungsmythos der Fünften Republik und erwies sich auch als bleibendes Band zwischen Kommunisten und Konservativen. Diese nationale Versöhnung wurde aber immer wieder durch Skandale unterbrochen. Seit den 1970er Jahren setzte eine breitere Aufarbeitung der Rolle des Vichy-Regimes bei Deportationen ein. Dies führte zu einer Anerkennung französischer Mitschuld am Holocaust und machte gleichzeitig Kontinuitätslinien des französischen Antisemitismus sichtbar. In der Konsequenz wurden die Holocaustopfer im Gedenken stärker wahrgenommen, was wiederum Auschwitz in der französischen Erinnerungskultur sichtbarer macht.

Deutschland: Vorbild oder Baustelle der Erinnerung

Franz-Josef Jelich (Recklinghausen) leitete das Panel mit dem Hinweis ein, dass die im Tagungsverlauf zunehmend kritisch beleuchtete „deutsche DIN-Norm“ (Garton Ash) des Gedenkens in ihren Anfängen durchaus als respektvoll-positiver Begriff in die Erinnerungsdebatte eingeführt worden sei. Der Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis erweise sich in Deutschland durch die doppelte Diktaturerfahrung mindestens zweifach gebrochen. Daran anschließend stellt sich die Frage, inwieweit die konkurrierenden ost- und westdeutschen Erinnerungskulturen integriert werden können.

Peter Reichel (Hamburg) stellte seiner Einordnung des Holocaust in die (west)deutsche Erinnerungskultur voran, dass das begriffliche Instrumentarium der Erforschung des Gedenkens noch der präziseren Bestimmung bedarf. Er kritisierte gleichfalls das Postulat einer Europäisierung der Erinnerung, die derzeit nur unter unzulässiger Missachtung der jeweiligen nationalen Besonderheiten möglich wäre. Sein Beitrag war in dieser Hinsicht der deutlichste Kontrapunkt zum unterliegenden Europäisierungsparadigma der Tagung, zumal er auch die deutsche Erinnerungslandschaft als weit weniger modellhaft einschätzt als viele andere Anwesende.

In der Frühgeschichte der Bundesrepublik wurden Kernaspekte der NS-Geschichte aus der Erinnerung ausgeschlossen. In der westdeutschen Bevölkerung setzte sich bald ein Selbstverständnis als Opfer von Bombenkrieg, Vertreibung und Besatzung durch, während die Shoah lediglich als Teilbereich des Kriegs an der Ostfront gesehen wurde. Auch aus den zumindest medial stark präsenten NS-Prozessen zu Anfang bzw. Mitte der 1960er Jahre entwickelte sich keine breitere gesellschaftliche Debatte und substantielle Auseinandersetzung in der Historiographie. Deshalb kann hier durchaus von der „zweiten verpassten Chance“ zur Thematisierung des Holocaust gesprochen werden. Auch die 68er-Bewegung war eher auf Kapitalismuskritik und Generationenkonflikt fixiert, so dass auch hier zunächst noch keine grundsätzliche Änderung eintrat. Erst im Rahmen der gesellschaftlichen Aufbrüche der 1970er Jahre rückte der Holocaust mehr und mehr ins Zentrum der Forschung. Seither wird der Blick auf die Täter und die Verbrechen differenzierter, gleichzeitig bleiben die Grenzziehungen innerhalb eines teilweise apologetisch verallgemeinernden Opfergedenkens umstritten. Seit Mitte der 1990er Jahre treten zunehmende Tendenzen der Amerikanisierung und Europäisierung des Gedenkens ein.

Annette Leo (Berlin) beschrieb in ihrer Suche nach Überbleibseln der DDR-Erinnerungskultur diese als „geschlossenen Kreis“, der stark an internationalistische und sozialistische Formen angelehnt war und nach 1989 einem massiven Abbau unterlag. Die Mehrzahl der Zeitzeugen war aus diesem Kreis ausgeschlossen und hatte das Erinnern auf private Kommunikation beschränken müssen. Nach 1989 sahen sich die Versuche, antifaschistische Gedenkelemente zu erhalten, der schnellen Ausdehnung des bundesrepublikanischen Erinnerungskonsenses gegenüber, der nunmehr langsam auch auf die familiäre Ebene durchsickert. Die allgemeine Suche nach neuen Eindeutigkeiten kam dabei oft einer Geschichtsentsorgung gleich. Darüber hinaus wurden jetzt Fragen der individuellen Verantwortung virulent, die zum eiligen Verwischen von Spuren nach 1989 geführt habe. Das als kontaminiert geltende DDR-Geschichtsbild unterliegt seitdem starker Tabuisierung, verbindet sich aber bisweilen wirkungsvoll mit Ansätzen eines ostdeutschen Patriotismus.

Annette Kaminsky (Berlin) beschrieb den Rang der Opfer des Stalinismus in der Erinnerungskultur in ihrem Vortrag als zusehends umkämpft. In den jüngsten Auseinandersetzungen um eine Erneuerung des Gedenkstättenkonzepts zeigt sich ein fortschreitendes Aufbrechen des „Burgfriedens“ bzw. des fragilen „Erinnerungskonsenses“, der sich bis dahin zwischen den verschiedenen Opfergruppen herausgebildet zu haben schien.

Joachim Gauck (Berlin) betonte in seinem Beitrag zum heutigen Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus und des Stalinismus, dass es zwar notwendig sei, nach der historischen Wahrheit zu suchen und diese auch aufzuarbeiten, bezweifelte jedoch, dass dabei immer eindeutige Aussagen zu erwarten sind. Es gehe eher darum, verschiedene, ungleichzeitige Narrative miteinander ins Verhältnis zu setzen.

Schluss: Nationalisierung versus Europäisierung der Erinnerung

In der Abschlussrunde plädierte Jörn Rüsen (Essen) noch einmal nachhaltig für eine europäische Erinnerungskultur, die er vornehmlich aus der antiken Rechts- und Bildungs- sowie der christlichen Kulturgeschichte herleitete. Das kontrastierte jedoch nicht nur von der zeitlichen Perspektive her mit den in dieser Hinsicht skeptischeren Einschätzungen in den empirischen Beiträgen der Tagung und traf auch bei den anderen Diskutanten eher auf Zurückhaltung.

Diese Konferenz wurde zwar von Historikern und Historikerinnen geprägt, der Einfluss der Historiographie auf die Erinnerungskulturen scheint jedoch zumindest in Osteuropa relativ gering zu sein. Sie repräsentieren eine von mehreren spezifischen Teilöffentlichkeiten, die in diesem Feld eine, aber bei weitem nicht die dominierende Stimme haben. Die vielfältigen Aufbrüche, die sich in den Gedenkkulturen Ost- wie Westeuropas seit den 1990er Jahren zeigten, haben sehr uneinheitliche Entwicklungen ausgelöst. Das wird umso deutlicher, wenn die Eigendynamik privaten und familiären Erinnerns in angemessener Weise berücksichtigt wird. Dies widerspricht der Vorstellung eines linearen Fortschritts von Erinnerungskulturen oder aber von gezielt steuerbaren Projekten innerhalb eines geschlossenen Systems des Gedenkens. Demgegenüber überwiegt der Eindruck eines offenen Kampfplatzes, dessen Hauptinteressen weiterhin auf den Gebieten der Identitätsstabilisierung, Harmonisierung und der politischen Legitimation liegen. Umstritten und bestenfalls in Ansätzen geklärt ist das Verhältnis der nationalsozialistischen zur kommunistischen Vergangenheit in den Ländern mit doppelter Diktatur- und/oder Besatzungserfahrung. Auch der damit zusammenhängende Bereich der Kollaboration hat erst ansatzweise seinen Ort im Gedenken gefunden. Die Vision der Europäisierung mag hier als integrierender Horizont für schwer lösbare Dilemmata erscheinen, der Weg dorthin wird jedoch, wenn überhaupt, noch für geraume Zeit auf unwegsamen nationalen Pfaden gegangen werden.


Redaktion
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